Gratiola. Gottesgnadenkraut. Skrophulariaceae.

Botanical name: 

Name: Gratíola officinális L. Gottesgnadenkraut. Französisch: Gratiole, herbe à pauvre homme; englisch: Hedge Hyssop; dänisch: Naadeurt; polnisch: Konitrut; russisch: Awran; tschechisch: Konitrud lékařský; ungarisch: Csikorka.

Namensursprung: Gratiola wird vom lateinischen gratia = Gnade abgeleitet, da die Pflanze als sehr heilkräftig galt.

Volkstümliche Bezeichnungen: Erdgalle, Gallenkraut, Allerheiligenkraut, Gottesgnadenkraut, Purgierkraut, Gichtkraut, Grazede = gratia dei!

Botanisches: Das Gottesgnadenkraut, das auf nassen Wiesen, in Wassergräben, an Ufern von Flüssen und Seen zu finden ist, wird bis zu 30 cm hoch. Es ist eine ausdauernde Pflanze mit gegliedertem, kriechendem, federkieldickem Wurzelstock. Der aufsteigende Stengel ist oberwärts vierkantig und wie die ganze Pflanze kahl. Die Blätter sind gegenständig, lanzettlich, halb stengelumfassend und von der Mitte bis zur Spitze schwach gesägt, meist dreinervig. Die gestielten Blüten sind einzeln blattachselständig. Die Krone ist gelblich - weiß oder blaß-rötlich mit etwas dunkleren Streifen. Blütezeit: Juli bis September.

Verbreitungsgebiet: Eurasien und Nordamerika. Den höheren Gebirgslagen fehlt die Pflanze ganz.

Geschichtliches und Allgemeines:

Die alten griechischen und römischen Ärzte scheinen die Gratiola nicht gekannt zu haben. Zwar ist verschiedentlich versucht worden, den Papaver spumeum des Dioskurides hierher zu ziehen, doch läßt sich dieses nicht mit Sicherheit beweisen. Im 16. Jahrhundert erwähnt Valerius Cordus sie unter dem Namen "Limnesium", während Matthiolus und Dodonaeus sie unter dem Namen "Gratiola" abbilden und auf ihre Heilkraft hinweisen. Auch andere Autoren des 17. Jahrhunderts, wie Joël, Hartmann und Rolfink rühmen sie als Heilmittel. Nach Coste und Willemet kann die Infusion von 1-3 g der Blätter des Krautes mit gutem Erfolge Jalapa ersetzen. Cazin wandte die Gratiola in mehreren Fällen von Wassersucht an und war mit der Wirkung sehr zufrieden. Auch wurde sie gegen Jodismus gegeben.

Wirkung

Von Matthiolus (Matthiolus, New-Kreuterbuch, 1626, S. 426.) wird das Mittel als abführend, diuretisch und wundheilend geschildert.

v. Haller (v. Haller, Medicin. Lexicon, 1755, S. 715.) schreibt, daß es "stark über und unter sich purgiere" und "zähen Schleim wie auch wässerige Feuchtigkeiten und Galle mit Gewalt ausführe", weshalb er es gegen Hydrops, Kachexie, Ikterus, Febris quartana, Amenorrhöe, Hüftweh und Würmer verordnet.

Auch nach Weinmann (Weinmann, J. W., Phytanthoza iconographia, Regensburg 1742, Bd. III, S. 71.) "schreiben die Medici der Gottes Gnade oder Aurin sehr viele gute Wirkungen und Kräffte zu". Er führt die meisten der schon genannten Anwendungsweisen auf. Infolge der stark abführenden Wirkung sei sie jedoch nur unter Vorsicht anzuwenden.

Osiander (Osiander, Volksarzneymittel, S. 102, 237.) und Hufeland (Hufeland, Enchir. medic., S. 156, 255, 551; Journal, Bd. 1, S. 589, 71 (Aufs. v. Lentin), Bd. 2, S. 143, Bd. 3, S. 93, Bd. 25, II., S. 35 (Dürr), Bd. 41, II., S. 131, Bd. 71, I., S. 117 (Muhrbeck.) führen das Mittel mit den gleichen Indikationen wie Matthiolus an, letzterer z. B. bei Fußgeschwüren, außerdem bei geistigen Störungen, namentlich Melancholie und Delirium potatorum.

Auch Kostrzewski (Kostrzewski, Dissertat. de Gratiola, Wien 1775.) schreibt der Gratiola eine stark beruhigende Wirkung zu und berichtet von drei Tobsüchtigen, die durch dieses Mittel geheilt worden seien. Auf Grund ihrer Eigenschaft, die Funktionen der Haut, Speicheldrüsen und Harnorgane anzuregen, empfiehlt er sie auch bei venerischer Lues.

Ebenso nennt Clarus (Clarus, Handb. d. spec. Arzneimittellehre, S. 1002.) das Mittel nützlich bei psychischen Affektionen, die von "materiellen Veränderungen", d. h. chronischen Leber- und Milzanschoppungen, Ikterus, chronischer Obstipation, Hydrops u. a. herrühren.

Wolff (Wolff, i. Hufelands Journal, Bd. 18, I., S. 40.) behauptet, daß Gratiola ein zuverlässiges Mittel sei, um Gichtanfälle zu heilen.

Wachtel (Wachtel, Schmidts Jahrbücher der Medizin 1854, Bd. 84.) gab Gratiola bei chronischer Malaria, und zwar von einem Dekokt 4 : 150 jede Stunde einen Eßlöffel voll. Er erzielte angeblich sehr gute Erfolge.

Schroff (Schroff, Pharmakologie, 1863, III. Aufl.) bestätigte die drastische Abführwirkung. Er konnte aber bei Melancholie und anderen Psychosen keine Wirkung konstatieren.

Leclerc (Leclerc, La gratiole dans le traitement de l'hydropisie Journal des Practicums 1917.) schreibt von der Behandlung eines tuberkulösen Aszites, bei dem die gewöhnliche Therapie versagt hatte. Durch Verabreichung des Fluidextraktes von Gratiola in dreitägigen Intervallen in steigenden Dosen (20-100 Tropfen) konnte der Kranke geheilt werden.

Otzolig (Otzolig, Gesundheitszust. i. Rußland, 1855.) gab mit gutem Erfolg ein Dekokt aus 30 g Herba Gratiolae auf 180 g Wasser, dreimal täglich 1 Eßlöffel bei Wechselfieber, wobei jedoch stets Erbrechen und Durchfall auftraten.

H. Schulz (H. Schulz, Vorlesungen über Wirkg. u. Anwendg. d. dtsch. Arzneipflanzen, S. 165, Leipzig 1929) glaubt, daß die in der Literatur häufig wiederkehrende Angabe, daß der Gebrauch der Gratiola zu starker sexueller Erregung führen könne, Mißtrauen gegen die Anwendung hervorgerufen habe. Aus seiner ausführlichen Darstellung der Einwirkung von Gratiola am gesunden Menschen ist die Beeinträchtigung des Sehvermögens beachtenswert. Die Prüflinge klagten über ungewöhnliche Kurz- oder Weitsichtigkeit, zuweilen auch verschwindendes Sehvermögen. Besonders bemerkenswert war die Störung in der Farbenempfindung. Er fand, daß nach dem Einnehmen von 10 Tropfen Gratiolatinktur eine ganz erhebliche Grünblindheit auftritt, und zwar in verhältnismäßig kurzer Zeit. In der Römerschen Augenklinik in Greifswald wurden diese Versuche demonstriert. Es gelang Schulz der Nachweis, daß bei einem halben Tropfen der Tinktur die Empfindlichkeit für Grün gesteigert wird, bei 10 Tropfen eine deutliche Grünblindheit eintritt.

Skokan (Skokan, Věda přírodní (Die Naturwissenschaft) J. IX., 1928.) bestätigt die gute Wirkung der Gratiola bei Hauterkrankungen.

Die Homöopathie (Schmidt, E., Lehrb. d. hom. Arzneimittell., S. 152; Heinigke, Handb. d. hom. Arzneiwirkungsl. S. 285; Stauffer, Klin. hom. Arzneimittell., S. 496.) bedient sich der Pflanze bei chronischen und subakuten Magen- und Darmkatarrhen, Koliken, schmerzhaften Diarrhöen, besonders der Kinder im Sommer nach Genuß kalter Getränke, bei Nieren- und Blasenkatarrh, gereizten Zuständen der Sexualorgane mit Kongestionen, Nymphomanie und Melancholie.

Die Pflanze wirkt stark drastisch und entzündungserregend auf die Magendarmschleimhaut und ruft Erbrechen, Diarrhöe mit Koliken und blutigen Stühlen, Zuckungen, Krämpfe, Ohnmacht und Kollaps, u. U. Abort hervor (Kobert, Lehrb. d. Intoxik., S. 355.).

Schaub (Schaub, Dissert. Braunschweig 1933.) stellte am Froschherzen eine starke digitalisartige Wirkung fest. Die chemische Aufarbeitung der Pflanze (Jaretzky, Arch. Pharm. 1935, Bd. 273, S. 334.) ergab außer den herzunwirksamen Glykosiden Gratiolin, Gratioligenin und Gratiogenin das herzwirksame, nicht kumulierende Gratiotoxin.

Die herzwirksamen Stoffe gehen weniger in das Infus als in den alkoholischen Auszug über. Am herzwirksamsten sind die Blätter.

C. B. Inverni (C. B. Inverni, Piante medicinale, Bologna 1933.) bevorzugt jedoch die Wurzel, die nach ihm als Emetico-Kathartikum und Diuretikum von ausgesprochener Wirkung und als bestes Ersatzmittel der Jalapenharze gilt.

Verwendung in der Volksmedizin außerhalb des Deutschen Reiches (nach persönlichen Mitteilungen):

Dänemark: Als Abführmittel.

Polen: Als selten gebrauchtes Brech- und Abführmittel.

Anwendung in der Praxis auf Grund der Literatur und einer Rundfrage:

Die starke abführende Wirkung wurde in der älteren Medizin benutzt zur Ableitung der Wassersucht, insbesondere der Bauchwassersucht, auf den Darm. Da allzu starke Dosen brechenerregend wirken, empfiehlt es sich, unter steter Kontrolle langsam steigende Dosen zu geben, die wohl purgierend wirken, aber weniger zum Erbrechen führen. Weiter kann Gratiola angewendet werden bei alten chronischen Hautausschlägen, namentlich hartnäckiger Krätze, alten Unterschenkelgeschwüren, hartnäckigen syphilitischen Hauterkrankungen, syphilitischen Knochengeschwülsten, Knochenfraß, hartnäckiger Gonor- und Leukorrhöe. In der Homöopathie wird es in entsprechender Verdünnung noch verordnet bei Diarrhöen, insbesondere Sommerdiarrhöen der Kinder, Magenkrämpfen und Koliken.

Auch gibt man es bei Hämorrhoiden, Arthritis urica, Melancholie und Hypochondrie infolge von Lebererkrankungen und Störungen im Pfortadergebiet, Varizen, Nieren- und Blasenkatarrh, Harnverhaltung, Atonie der Unterleibsorgane, bei zu schwachen Menses, Menstruationsstörungen mit Psychosen, schmerzhafter Obstipation und Pruritus senilis (so wurde heftiges Jucken am Genitale bei einer 72jährigen Greisin, das nahezu ein Jahr erfolglos behandelt worden war, nach etwa zwei Monaten durch Gratiola D 3 günstig beeinflußt).

Recht häufig wird das Mittel mit zuweilen recht gutem Erfolg auch bei Epilepsie und bei Geistesstörungen, seltener bei Nymphomanie, schmerzhaften Erektionen mit Pollutionen, Chlorose, Blutarmut, Magerkeit, Asthma und Lungenemphysem angewendet.

Äußerlich wird es außer bei Ulcus cruris auch noch bei anderen Ulzera und Gichtknotenschmerzen als Umschlag empfohlen.

Angewandter Pflanzenteil:

Als verwendet werden angegeben das Kraut bzw. die Blätter von Matthiolus, v. Haller, Osiander, Buchheim, Buchheister und Ottersbach, Hager, Heinigke.

Während aber Geiger und Zörnig ausdrücklich die Pflanze ohne Wurzel verwendet wissen wollen, bezeichnet Dragendorff Kraut und Wurzel als Droge, und Thoms führt sowohl Herba Gratiolae wie auch Radix Gratiolae auf. (Nach Kobert sind die wirksamen Stoffe in der ganzen Pflanze enthalten.)

Als Sammelzeit wird die Zeit kurz vor der Blüte genannt.

Nach diesen Angaben wird das "Teep" aus der etwa im Juni gesammelten frischen Pflanze ohne Wurzel hergestellt. Das frische, vor der Blüte gesammelte Kraut wird auch zur Bereitung der homöopathischen Urtinktur nach dem HAB. benutzt (§ 2).

Gratiola ist in Portugal offizinell.

Dosierung:

Übliche Dosis:
0,15-0,3 g des Pulvers oder Dekokts (Hager).
2-3-4 Tabletten der Frischpflanzenverreibung "Teep" als Tagesmenge zur Ableitung auf den Darm.
(Die "Teep"-Zubereitung ist auf 50% Pflanzensubstanz eingestellt, d. h. 1 Tablette enthält 0,125 g Hb. Gratiolae.)

In der Homöopathie:

1 Tablette "Teep" D 2 zwei- bis dreimal täglich. dil. D 3, dreimal täglich 10 Tropfen.

Maximaldosis:

1 g pro dosi, 3 g pro die Hb. Gratiolae (Ergänzb.).
In der Dosierung sei man vorsichtig, da die Patienten verschieden empfindlich sind und oft starkes Erbrechen nach dem Einnehmen bekommen.

Rezepte:

Bei Hypochondrie durch Störungen im Pfortadergebiet (nach Mühlschlegel):

Rp.:
Hb. Gratiolae . . . 10 (= Gottesgnadenkraut)
Hb. Fumariae (= Erdrauchkraut)
Hb. Taraxaci . . . aa 30 (= Löwenzahnkraut)
M.f. species.
D.s.: 1 Teelöffel auf 1 Glas Wasser, vgl. Zubereitung von Teemischungen S. 291.
Rezepturpreis ad chart. etwa -.67 RM.

Bei chronischen Hautleiden (nach Meyer):

Rp.:
Hb. Gratiolae officin. . . . 0,2
F. pulv. d. tal. dos. Nr.XX.
D.s.: Dreimal täglich 1 Pulver.
Rezepturpreis ad scat. etwa 1.48 RM.

Bei Leber- und Darmleiden und Hypochondrie: Kämpfs Kräuter-Klistier:

Rp.:
Rad. Taraxaci (= Löwenzahnwurzel)
Hb. Cardui bened. (= Kardobenediktenkraut)
Hb. Fumariae (= Erdrauchkraut)
Hb. Millefolii (= Schafgarbenkraut)
Fol. Marrubii (= Andornblätter)
Flor. Chamomillae (= Kamillenblüten)
Flor. Verbasci (= Wollkrautblüten)
Hb. Gratiolae (= Gottesgnadenkraut)
C. m. ad partes aequales.
D.s.: 50 g von dieser Mischung mit einer Handvoll Kleie in 0,5 kg Wasser bis auf 0,25 kg einkochen.
Täglich 1-3 Klistiere, zuerst warm, dann kühl. Mehrere Monate in immer längeren Abständen.
Rezepturpreis ad chart. etwa 1.97 RM

Lehrbuch der Biologischen Heilmittel, 1938, was written by Dr. Med. Gerhard Madaus.